VIRTUELLE BETRIEBSRATSSITZUNGEN – ÄNDERUNG DES BETRIEBSVERFASSUNGSGESETZES BESCHLOSSEN

VIRTUELLE BETRIEBSRATSSITZUNGEN – ÄNDERUNG DES BETRIEBSVERFASSUNGSGESETZES BESCHLOSSEN

Das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) kennt nach seiner bisherigen Konzeption keine virtuelle Betriebsratssitzung. So waren die Teilnahme an Betriebsratssitzungen und Beschlussfassungen des Betriebsrats etwa per Videokonferenz oder via Telefon bislang nicht vorgesehen. Erforderlich war vielmehr stets eine gemeinsame Betriebsratssitzung vor Ort, eine sogenannte Präsenzsitzung.

 

Um die Handlungsfähigkeit der Betriebsparteien auch während der Corona-Pandemie und der Maßnahmen zur Verhütung der Ausbreitung des Coronavirus (Kontaktbeschränkungen, „Social Distancing“ etc.) sicherzustellen, hat der Gesetzgeber eine befristete Änderung des BetrVG durch die Einführung des neuen § 129 BetrVG für die aktuelle Ausnahmesituation beschlossen.

 

Auf Basis dieser befristeten Ausnahmeregelung, die rückwirkend zum 01.03.2020 in Kraft tritt und bis zum Ablauf des 31.12.2020 gelten wird, erhält (u.a.) der Betriebsrat die Möglichkeit zur Durchführung von Betriebsratssitzungen und der Beschlussfassung mittels Video- oder Telefonkonferenz.

 

DIE BISHERIGE RECHTSLAGE

 

Nach der Konzeption des BetrVG konnten vor der befristeten Einführung des § 129 BetrVG wirksame Betriebsratsbeschlüsse rechtssicher nur in einer Präsenzsitzung vor Ort von den körperlich anwesenden Betriebsratsmitgliedern (und nicht etwa in einer Video- oder Telefonkonferenz) gefasst werden:

 

Denn ordnungsgemäße Beschlüsse des Betriebsrats werden nach § 33 Abs. (1) BetrVG mit der Mehrheit der Stimmen der anwesenden Mitglieder gefasst.

 

Beschlussfähig ist der Betriebsrat zudem nach § 33 Abs. (2) BetrVG grundsätzlich nur, wenn mindestens die Hälfte seiner der Mitglieder an der Beschlussfassung teilnimmt.

 

Zudem gilt nach § 30 Satz 4 BetrVG für Betriebsratssitzungen und somit für Beschlussfassungen der Grundsatz der Nichtöffentlichkeit.

 

Diese Voraussetzungen sind nach überwiegender Ansicht (trotz gewichtiger Gegenstimmen) in der juristischen Literatur und Rechtsprechung weder bei Betriebsratssitzungen per Videokonferenz noch via Telefonkonferenz und erst recht nicht bei Beschlussfassungen im Umlaufverfahren per E-Mail o.ä. erfüllt. Insbesondere könne, so die überwiegende Ansicht, bei virtuellen Sitzungen, anders als bei einer Präsenzsitzung, eine unbefugte Teilnahme Dritter nicht ausgeschlossen werden.

 

HANDLUNGSFÄHIGKEIT DER BETRIEBSPARTEIEN BEDROHT

 

Das rechtliche Erfordernis der Beschlussfassung in Präsenzsitzungen des Betriebsrats vor Ort führte zu einer Bedrohung der Handlungsfähigkeit der Betriebsparteien.

 

Denn einerseits erfordern die Folgen der Corona-Pandemie noch mehr als sonst ein schnelles und rechtssicheres Handeln der Betriebsparteien zum Schutz des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer – man denke nur an die Einführung von Kurzarbeit, Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zahlreiche weitere mitbestimmungspflichtige Maßnahmen.

 

Andererseits sah sich der Betriebsrat jedoch in vielen Fällen außerstande, Betriebsratssitzungen vor Ort unter Einhaltung geltender Corona-Schutzanordnungen und ohne Gefahr für Leben oder Gesundheit der Betriebsratsmitglieder durchzuführen.

 

Dort, wo Betriebsratsgremien, um in dieser Situation überhaupt weiter handlungsfähig zu bleiben, virtuelle Betriebsratssitzungen durchführen mussten, schwebte über den dort gefassten Beschlüssen und den auf Basis dieser Beschlüsse durchgeführten Maßnahmen das Damoklesschwert der Unwirksamkeit.

 

Vielerorts wurden angesichts dieses Dilemmas Regelungsabreden geschlossen, worin die Betriebsparteien vereinbarten, sich während der Corona-Pandemie auf die Unwirksamkeit von Beschlüssen nicht mit der Begründung zu berufen, dass diese nicht in einer Präsenzsitzung, sondern per Videokonferenz gefasst wurden. Vollständige Rechtssicherheit konnte auch diese Vorgehensweise mangels Bestehens einer gesetzlichen Regelung über die Zulässigkeit virtueller Betriebsratssitzungen nicht bieten.

 

An dieser verbliebenen Rechtsunsicherheit änderte auch die Erklärung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil vom 23.03.2020 nichts. Er hatte darin die Meinung geäußert, in der aktuellen Lage, sei – wenn beispielsweise die Teilnahme an einer Präsenzsitzung zu Gefahren für das Leben oder die Gesundheit der Betriebsratsmitglieder führt oder wegen behördlicher Anordnungen nicht möglich ist – auch die Teilnahme an einer Betriebsratssitzung mittels Video- oder Telefonkonferenz einschließlich online gestützter Anwendungen wie WebEx Meetings oder Skype, zulässig.

 

DER NEUE § 129 BETRVG

 

Um den Betriebsparteien die bislang fehlende Rechtssicherheit zu gewähren und der in der Ministererklärung geäußerten Meinung eine gesetzliche Grundlage zu geben, hat der Gesetzgeber nun mit der Einführung des neuen § 129 BetrVG eine befristete Änderung des BetrVG beschlossen. Auf der Basis dieser Ausnahmeregelung kann der Betriebsrat bis zum Ende des Jahres 2020 Beschlüsse mittels Video- oder Telefonkonferenzen fassen.

 

Möglich sind danach nicht nur vollständig per Video- oder Telefonkonferenz durchgeführte Sitzungen, sondern auch solche, in denen ein Teil der Mitglieder körperlich anwesend und der andere Teil audiovisuell oder telefonisch hinzugeschaltet ist.

 

Weiterhin unzulässig sind jedoch Umlaufbeschlüsse per E-Mail, WhatsApp etc.

 

Der neue § 129 BetrVG gilt auch für die weiteren in der Norm genannten betriebsverfassungsrechtlichen Gremien sowie entsprechend für den Wirtschaftsausschuss und, um sicherzustellen, dass während der Corona-Pandemie die Handlungsfähigkeit der Betriebsparteien nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass keine physische Einigungsstelle eingesetzt werden kann, auch für die Einigungsstelle.

 

Sinn der Rückwirkung der Ausnahmeregelung zum 01.03.2020 ist es, bereits auf virtuellen Betriebsratssitzungen gefasste Beschlüsse zu legitimieren.

 

Auf Basis des neuen § 129 BetrVG können bis Ende des Jahres auch u.a. Betriebsversammlungen mittels audiovisueller Einrichtungen durchgeführt werden. Auch insoweit muss sichergestellt sein, dass unbefugte Dritte keine Kenntnis vom Inhalt der Versammlung nehmen können. Eine Aufzeichnung ist auch hier unzulässig. Im Unterschied zur Neuregelung zu den Betriebsratssitzungen sind hier Betriebsversammlungen als Telefonkonferenzen (da nicht audiovisuell) nicht möglich.

 

WORTLAUT DES NEUEN § 129 BETRVG

 

Der Wortlaut des neuen § 129 BetrVG lautet wie folgt:

 

  1. Die Teilnahme an Sitzungen des Betriebsrats, Gesamtbetriebsrats, Konzernbetriebsrats, der Jugend- und Auszubildendenvertretung, der Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung und der Konzern-Jugend- und Auszubildendenvertretung sowie die Beschlussfassung können mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen, wenn sichergestellt ist, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Eine Aufzeichnung ist unzulässig. § 34 Absatz 1 Satz 3 gilt mit der Maßgabe, dass die Teilnehmer ihre Anwesenheit gegenüber dem Vorsitzenden in Textform bestätigen. Gleiches gilt für die von den in Satz 1 genannten Gremien gebildeten Ausschüsse.
  2. Für die Einigungsstelle und den Wirtschaftsausschuss gilt Absatz 1 Satz 1 und 2 entsprechend.
  3. Versammlungen nach den §§ 42, 53 und 71 können mittels audiovisueller Einrichtungen durchgeführt werden, wenn sichergestellt ist, dass nur teilnahmeberechtigte Personen Kenntnis von dem Inhalt der Versammlung nehmen können. Eine Aufzeichnung ist unzulässig.

 

VORAUSSETZUNGEN DES NEUEN § 129 BETRVG

 

Folgende Voraussetzungen müssen – neben den bereits geltenden Regelungen zu Betriebsratssitzungen (§§ 29-35 BetrVG) – bei der Durchführung von virtuellen Betriebsratssitzungen eingehalten werden:

  • Sicherstellen, das Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können;
  • eine Aufzeichnung ist unzulässig;
  • die Sitzungsteilnehmer müssen ihre Anwesenheit gegenüber dem Vorsitzenden in Textform bestätigen.

 

UMSETZUNG IN DER PRAXIS

 

Um den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit von Betriebsratssitzungen (§ 30 Satz 4 BetrVG) zu gewährleisten, muss bei Durchführung virtueller Sitzungsvarianten sichergestellt sein, dass unbefugte Dritte keine Kenntnis vom Inhalt der Sitzung erlangen und die Sitzung nicht aufgezeichnet wird.

 

Insbesondere sind daher in der Praxis nur geprüfte und gegen die Zuschaltung Dritter gesicherte Programme für Telefon- und Videokonferenzen zu verwenden.

 

Problematisch ist dabei, dass zahlreiche der bisher existierenden Videotechnik-Plattformen unter Datenschutzgesichtspunkten als kritisch einzuschätzen sind. Auch der in der Gesetzesbegründung zum neuen § 129 BetrVG erwähnte Anbieter WebEx hat beispielsweise seinen Sitz in den USA, einem datenschutzrechtlich unsicheren Drittland.

 

Hier werden Unsicherheiten bestehen, wie genau tatsächlich praktisch sichergestellt werden kann, dass Dritte an virtuellen Sitzungen nicht teilnehmen können. Daher sollten Videokonferenzen grundsätzlich vorrangig gegenüber Telefonkonferenzen durchgeführt werden, da die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtöffentlichkeit hier zusätzlich zumindest einer gewissen visuellen Kontrolle unterliegt.

 

Gemäß § 34 Absatz (1) BetrVG ist über jede Betriebsratssitzung ein Protokoll zu führen, dem eine Anwesenheitsliste beizufügen ist. Bei Durchführung einer virtuellen Sitzungsvariante wird dem Erfordernis, der Niederschrift dadurch Genüge getan, dass die Teilnehmer ihre Anwesenheit dem Vorsitzenden in Textform (z.B. SMS oder E-Mail) bestätigen.

 

Dabei bietet es sich, um einen weiteren praktischen Beitrag zur Sicherstellung des Grundsatzes der Nichtöffentlichkeit zu leisten, an, zusätzlich von den Teilnehmern bestätigen zu lassen, dass keine unbefugten Dritten zugegen sind, die vom Inhalt der Sitzung Kenntnis nehmen könnten.

 

Fraglich ist, ob nach dem neuen § 129 BetrVG bei Vorliegen seiner Voraussetzungen vom Betriebsratsvorsitzenden stets die virtuelle Sitzungsvariante gewählt werden kann oder ob – und unter welchen Umständen – vorrangig Präsenzsitzungen durchzuführen sind.

 

Dazu wird derzeit überwiegend vertreten, dass aus der zeitlichen Begrenzung des neuen § 129 BetrVG bis Ende 2020 sowie aus dessen Wortlaut („können“) zu schließen ist, dass die neue gesetzliche Vorschrift eine anlässlich der Corona-Pandemie beschlossene Ausnahmeregelung darstellt, so dass die Präsenzsitzung vor Ort weiterhin der gesetzliche Regelfall bleibt und dort, wo sie auch während der Corona-Krise möglich ist, auch weiterhin vorrangig durchzuführen ist. Danach ist die virtuelle Sitzung sowohl Ausnahme als auch letztes Mittel und als solches nur dann zulässig, wenn eine herkömmliche Präsenzsitzung unter Einhaltung geltender Corona-Schutzanordnungen und ohne Gefahr für Leben oder Gesundheit der Betriebsratsmitglieder nach pflichtgemäßem Ermessen des Betriebsratsvorsitzenden nicht möglich ist.

 

Daher sollten, ganz besonders, wenn Beschlüsse zu mitbestimmungspflichtigen Maßnahmen von großer Bedeutung oder mit großem wirtschaftlichem Volumen gefasst werden, virtuelle Sitzungsvarianten vorsichtshalber erst dann zur Anwendung kommen, wenn alle Möglichkeiten zur Durchführung einer Präsenzsitzung unter Einhaltung coronabedingter Vorgaben (z.B. Laden von Ersatzmitgliedern für durch Erkrankung oder Quarantäne verhinderte Betriebsratsmitglieder, Nutzung umfunktionierter Räumlichkeiten anstatt des Betriebsratsbüros, um so ggf. Abstands-/Hygienevorgaben einhalten zu können etc.) ergebnislos ausgeschöpft sind.

 

KRITIK, OFFENE FRAGEN

 

Wie häufig, wenn der Gesetzgeber Änderungen eilig umsetzen muss, ist auch der Text des neuen § 129 BetrVG nicht bis ins Letzte ausgefeilt.
Kritik wird insbesondere daran geübt, dass der neue § 129 BetrVG

 

  • im Unklaren lässt, wie genau sichergestellt werden kann, dass unbefugte Dritte keine Kenntnis vom Inhalt der Sitzung nehmen können und die Sitzung nicht aufgezeichnet werden kann;
  • nicht beantwortet, wer verantwortlich ist für die Sicherstellung der Nichtöffentlichkeit und dafür, dass keine Aufzeichnung erfolgen kann (und wer datenschutzrechtlich verantwortlich ist);
  • unbeantwortet lässt, ob und unter welchen Umständen Präsenzsitzungen Vorrang haben;
  • keine Regelung für virtuelle Sitzungsvarianten bei in die Pandemiezeit fallende Wahlen (z.B. Wahlvorstandssitzungen bei erstmaliger Wahl eines Betriebsrats) enthält.

 

Bezüglich dieser offenen Fragen werden weiter Unsicherheiten bestehen, mit denen in den Gremien und in der Beratungspraxis umgegangen werden muss.

 

FAZIT

 

Der beschlossene § 129 BetrVG ist ein Schritt in die richtige Richtung, denn unter dessen Voraussetzungen können die betriebsverfassungsrechtlichen Gremien dort, wo während der Corona-Pandemie Präsenzsitzungen des Betriebsrats nicht möglich sind, bis Ende des Jahres 2020 Beschlüsse zur Umsetzung mitbestimmungspflichtiger Maßnahmen per Telefon- oder Videokonferenz fassen und so handlungsfähig bleiben.

 

Dennoch lässt der neue § 129 BetrVG einige Fragen offen und dessen zeitliche Begrenzung bis Ende 2020 sowie dessen Wortlaut („können“) zeigen, dass die neue gesetzliche Vorschrift eine anlässlich der Corona-Pandemie beschlossene Ausnahmeregelung darstellt. Die Präsenzsitzung vor Ort bleibt, dort wo sie auch während der Corona-Krise möglich ist, weiterhin der gesetzliche Regelfall.

 

Daher sollten, besonders bei Beschlüssen zu mitbestimmungspflichtigen Maßnahmen von großer Bedeutung, virtuelle Sitzungen vorsichtshalber erst dann zur Anwendung kommen, wenn eine Präsenzsitzung unter Einhaltung geltender Corona-Schutzanordnungen und ohne Gefahr für Leben oder Gesundheit der Betriebsratsmitglieder nach pflichtgemäßem Ermessen des Betriebsratsvorsitzenden nicht möglich ist. Wird auf Basis des § 129 BetrVG auf virtuelle Sitzungsvarianten zurückgegriffen, ist jedenfalls die Videokonferenz grundsätzlich gegenüber der Telefonkonferenz vorzugswürdig.

 

In jedem Fall muss bei der virtuellen Sitzungsvariante sichergestellt werden (wann diese Voraussetzung erfüllt ist, wird in der Praxis sicherlich für Diskussionen und Unsicherheit sorgen), dass unbefugte Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können und dass die Sitzung nicht aufgezeichnet wird.

 

Betriebsräte sollen noch stärker unterstützt werden! Mit dem Betriebsrätestärkungsgesetz hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales noch kurz vor dem Ende des Jahres 2020 den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung der Betriebsratswahlen und zur Stärkung der Betriebsräte vorgelegt. Hier können Sie mehr über das Betriebsrätestärkungsgesetz erfahren.

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Dr. Oliver Hahn

Partner · Gründer

Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht

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